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Türkei: Putsch unter dem Deckmantel "demokratischer Wahlen"

In der Türkei überschlagen sich wieder einmal die Ereignisse. Mitten in einer politisch und wirtschaftlich heiklen Situation ergreift der türkische Staatspräsident die Flucht nach vorne, um sein favorisiertes Präsidialmodell endgültig zu implementieren. Was auf den ersten Blick als spontaner Entscheid daher kommt, entpuppt sich in Wirklichkeit als sehr genau kalkulierter Schritt, grenzüberschreitend, was die bisherige Verfassung und Gesetze betrifft und müsste eigentlich bei allen internationalen Partnern die Alarmglocken schrillen lassen.

Der Reihe nach:


  • Am 16.04.2018 twittert der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli, er halte vorgezogene Wahlen für sinnvoll und könnte sich den August 2018 als geeignetes Datum vorstellen.
  • Großer Wirbel in der Presse und Erdogan reagiert ausweichend. Er werde am 18. 04. Devlet Bahceli treffen und sich mit ihm darüber unterhalten. 
  • Am 17.04.2018 (und damit einen Tag früher als geplant!) verlängert das Parlament mit den Stimmen der AKP und der MHP zum siebten Male den Ausnahmezustand um weitere 3 Monate. Begründet wird dies, wie auch die vorgezogenen Wahlen, mit der "aktuellen Situation in Syrien".  Diese besteht darin, dass der Nato-Partner Türkei sich eigenmächtig entschieden hat, in Syrien einzumarschieren und verschiedene Regionen unter seine Kontrolle zu bringen.
  • Tatsächlich gibt es dieses Treffen mit Bahceli und gleichzeitig eine Fraktionssitzung der AKP, welche eine halbe Stunde dauert. Anschließend verkündet Erdogan, dass die für 2019 vorgesehenen Parlaments- und Kommunalwahlen vorgezogen würden und zwar auf den 24. Juni 2018. Für Vorbereitung und Kampagnen stehen also 65 Tage zur Verfügung, die heiße Wahlkampfphase fällt in den Fastenmonat Ramadan und die Wahlen finden eine Woche nach dem dreitägigen Zuckerfest statt. Eine Woche, in welcher die halbe Türkei als Besuchs- und Urlaubswoche nutzt.
  • Außerdem: Am 8. Juni beginnen die großen Schulferien. Der Wahltermin fällt also in die Ferienzeit.

Bemerkenswert:

Was hier in der Öffentlichkeit als das "Aufnehmen eines guten Vorschlags des kleineren Partners" zelebriert wird, scheint ein knallhartes Kalkül   Erdogans zu sein, mit welchem er einmal mehr seine Präsidialmacht mehr als grenzwertig demonstriert und sämtliche staatlichen Organe zu Handlangern demontiert. Demokratie und Gewaltentrennung sind nur noch Proforma-Einrichtungen, welche auf Zuruf und im Sinne Erdogans tätig werden.
  • Eigentlich ist für die Ansetzung laut bisherigem Wahlgesetz eine Frist von 90 Tagen einzuhalten. Der hohe Wahlrat ist bis heute daran gebunden. Angekündigt ist jedoch eine Gesetzesänderung, welche dieses Wochenende im Parlament beschlossen werden soll, wonach diese Frist auf 60 Tage verkürzt  werden soll. 
  • Dieser Entscheid fällt also, NACHDEM Erdogan bereits einen Wahltermin mit dieser Frist verkündet hat. Das Parlament legitimiert den Staatspräsidenten im Nachhinein....und ab Montag beginnt die (neu beschlossene) Wahlkampfperiode. Die Opposition spricht von einem Verfassungsputsch. 
  • Ganz offensichtlich will Erdogan diese Wahlen unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes abhalten. Dies ermöglich ihm, per Dekret Veranstaltungen zu verbieten oder mit Auflagen zu versehen. Das kann natürlich ganz praktisch sein.

Worum es bei diesem Termin wirklich geht: 

Es scheint, dass Erdogan sämtliche Faktoren, welche einen möglichen Wahlerfolg gefährden könnten, von Beginn weg zu eliminieren versucht:
  • Seit Dezember sitzt der Führer der kurdischen DHP, Selahattin Demirtas,  in U-Haft, das eigentliche Verfahren wurde noch nicht eröffnet. Die DHP und ganz besonders der charismatische Demirtas hatten Erdogan 2015 die Parlamentswahlen vermasselt, indem die Partei mit 50 Sitzen ins Abgeordnetenhaus einzog und eine absolute Mehrheit der AKP verhinderte. Solange der Führer dieser Partei im Gefängnis ist, stellt er keine Gefahr dar. EU und NATO wissen das und schlucken Kreide. Wo ist eigentlich das internationale Engagement bezüglich der Inhaftierung von Selahattin Demirtas?
  • Eine neue Gefahr auf dem Wege zu einem 50%+ - Ergebnis stellt die neu gegründete IYI Partisi von Meral Aksener dar. Gegründet im Oktober 2017. Allerdings wird bereits jetzt heftig darüber debattiert, ob diese Partei überhaupt zu den Wahlen zugelassen werde, da sie ihren ersten regulären Parteitag erst am 1. April durchführte. Für eine Teilnahme an der Wahl wird eine Frist von 6 Monaten (bezogen auf Gründung oder regulären Parteitag?) als Bedingung gesetzt.Was gilt nun für die IYI Partisi? Diesbezüglich gibt sich der Vorsitzende des Hohen Wahlrates, Sadi Güven, unwissend. Die Unterlagen der IYI Partisi würden nach Eingang der Wahlzulassungsanträge geprüft, was nichts Gutes verheißt.
  • Ein derart vorgezogener Wahltermin eröffnet also Erdogan die Möglichkeit, Oppositionsparteien mit einem gemeinsamen Potential von  20% - 30% Wählerstimmen von allem Anfang an aus dem Rennen zu nehmen. AUCH DIESE KRÖTE WIRD IN DER EU GESCHLUCKT?

Religion als Mittel zum Zweck. Wahlkampf im Ramadan!

"Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind", so ein Zitat Erdogans aus dem Jahre 1998. Alle Kommentatoren und Kritiker, welche vor der Dauerislamisierung der türkischen Gesellschaft warnen, sollten sich fragen, ob dieser Satz aus der Sicht Erdogans nicht genau so für seinen Umgang mit der Religion gilt. Dort wo sie dienlich ist, wird sie auf den Schild gehoben, aber nur, wenn es der Zementierung des eigenen weltlich-totalitären Machtanspruches dient. Die Religion selbst ist unwichtig - das Interesse liegt lediglich an Wählerstimmen. Religion ist der größte gemeinsame Nenner in einer zu 95% muslimischen Gesellschaft. Das wars aber auch schon. Genau dies passiert jetzt:
  • Ramadan, Zeit der Besinnung, der Reinigung, der Pflege von Gemeinsamkeit in Form des gemeinsamen Fastenbrechens. Ein Kernstück der Religion. Exakt in diese gesellschaftlich-religiös verbindende Periode drängt  sich nun Erdogan als alles überlagernde Person, stellt sich zur Wahl, pulverisiert den Grundgedanken des Ramadan.
  • Was ist also vom allabendlichen Fastenbrechen im Juni 2018 zu erwarten? Politik. Mitgetragen vom inflationär gewachsenen Heer der Imame, welche alle im Staatssold stehen.
  • Was ist zu erwarten in der Fastenzeit an großen Meetings der verschiedenen Parteien? Es darf nichts getrunken und gegessen werden. Wie soll das ablaufen?
  • Wer sich trotzdem zu solchen Anlässen entschließt, dürfte von der Regierungspresse ganz schnell als unreligiös und den Ramadan missachtend ausgegrenzt werden. Mit rund 80% Medienbesitz ein leichtes Spiel für die AKP.
  • Die Ansetzung des Wahltermins verfolgt also offensichtlich das Ziel, den Wahlkampf von der Straße weg rein in die Medien zu ziehen, wo bereits klar ist, wer die Meinungshoheit hat. Dies wurde beim Referendum 2017 schon  eindrücklich bewiesen.
  • Wir erleben also einen Politiker, der auch vor den Gefühlen wirklich religiöser Menschen keinen Halt macht, sondern eigenmächtig entschieden hat, sich  als Person mit einem absoluten Machtanspruch VOR den religiösen Gedanken zu setzen.

Europa erneut auf der Zuschauerbank?

Die EU ist ja verschiedenen Ländern gegenüber recht flott unterwegs, wenn es um Kritik geht. Verfassungsänderung in Ungarn, Ukraine-Russland, Iran usw. DAS, was hingegen in der Türkei seit 2012 bis heute abgeht, bleibt weitestgehend unwidersprochen,  ohne  Konsequenzen. Der Hinweis auf den Flüchtlingspakt, welcher nicht gefährdet werden soll, ist lächerlich und Menschen verachtend. Er wird dann gelockert, wenn Erdogan es will, als neues Druckmittel. Und: Wäre sich Europa nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der praktischen Umsetzung zum Thema Flüchtlinge einig, dann würden eben 3 Mio in der Türkei lebende Flüchtlinge aufgenommen, in Europa verteilt, gleichzeitig harte und schon längst überfällige Sanktionen gegen die Türkei ergriffen und Schluss ist mit dieser Drohgebärde.

Die billige und oft gehörte Ausrede "das türkische Volk soll entscheiden" ist scheinheilig, wenn man in Betracht zieht, wie die letzten beiden Wahlen abgelaufen sind.  Dieses türkische Volk hat die Möglichkeit, entweder den selbst ernannten Heilsbringer Erdogan  oder aber "Terroristen" und "Gülenisten" (= alle, welche nicht mit Erdogan einverstanden sind) zu wählen. Dieser Boden ist medial schon längst vorbereitet und der verlängerte Ausnahmezustand macht es möglich, Erdogan gefährlich werdende Protagonisten auf präsidialen Zuruf  und mit fadenscheinigen Vorwürfen für die Zeit der Wahlen aus dem Verkehr zu ziehen. 

So ehrlich sollten auch europäische Einschätzungen der aktuellen Situation in der Türkei sein - alle wirtschaftlichen Interessen mal in den Hintergrund gestellt!


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